Schluss mit den Klischees: Viele Ausbildungsstellen bleiben auch in diesem Jahr unbesetzt. Das liegt nicht an der fehlenden Attraktivität der Handwerksberufe, sondern vor allem an weitverbreiteten Vorurteilen.
Für 435.383 Schulabgängerinnen und Schulabgänger hieß es diesen Herbst: hallo, Handwerk! Diese Hunderttausenden Azubis stimmen die deutschen Unternehmen zuversichtlich, denn es wurden zwei Prozent mehr Ausbildungsverträge abgeschlossen als im Vorjahr. Und trotzdem: Das 14. Jahr in Folge bleiben gleichzeitig viele Tausend Ausbildungsplätze in nahezu allen Branchen und Regionen unbesetzt. Die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber befindet sich trotz Zuwachs auf einem Tiefstand.
Karrierekiller Ausbildung?
Doch warum wollen immer weniger junge Menschen eine Berufsausbildung anfangen? Unter den 130 Ausbildungsberufen im Handwerk müsste doch eigentlich für alle ein Traumjob dabei sein. Ob Tischlerei oder Holzspielzeugmanufaktur, Baugeräteführer oder Chirurgiemechanikerin ‒ in der Welt des Handwerks gibt es viel zu entdecken.
„Ich war sehr überrascht, welche tollen und ausgefallenen Ausbildungsberufe es gibt. Ich habe mich dann für einen zukunftssicheren Beruf entschieden“, sagt Jan, 20, der sich im dritten Lehrjahr zum Bäcker befindet und von einem eigenen Unternehmen träumt. „Ich habe immer gedacht, im Handwerk kann man keine Karriere machen. Dabei stehen mir hier alle Türen offen. Ich kann sogar irgendwann mein eigener Chef sein.“
Nur wer studiert, wird Chefin oder Chef – dieses Vorurteil ist immer noch weit verbreitet. Dabei sind die beruflichen Perspektiven im Handwerk hervorragend und die Karrierechancen derzeit so gut wie kaum jemals zuvor, betont der Zentralverband des deutschen Handwerks immer wieder. Auch Jans Ausbildungsleiterin erklärt: „Es braucht einen Bewusstseinswandel, um alte Klischees endlich aus den Köpfen zu bekommen und die Vorteile einer Ausbildung gegenüber einem Studium hervorzuheben. Das Handwerk ist ziemlich sexy, man muss nur genau hinschauen.“ Manchmal sei es eben Liebe auf den zweiten Blick.
Viel Arbeit, wenig Geld?
Tatsächlich wuchs in den Industriestaaten die Zahl der Menschen mit einem Hochschulabschluss in den vergangenen Jahren von einem Drittel im Jahr 2008 auf 44 Prozent im Jahr 2020. Und das, obwohl überall Fachkräfte fehlen.
Die berufliche Bildung scheint für viele finanziell unattraktiver zu sein. Offenbar hält sich das Gerücht, Akademikerinnen und Akademiker würden deutlich besser verdienen als Handwerkerinnen und Handwerker, auf deutschen Schulhöfen besonders hartnäckig.
Eine kürzlich erschienene Studie zum Einkommen von Personen mit Hochschulabschluss und denen mit Ausbildungsberufen widerlegt nun auch wissenschaftlich, was viele Betriebe und Unternehmen schon immer wussten: Während Menschen mit Berufsausbildung bereits früh Geld verdienen, Akademikerinnen und Akademiker während ihres Studiums aber nur sehr wenig Einkommen verbuchen, haben spätere Meister bis zu einem Alter von 60 Jahren mehr Geld auf ihrem Konto. Bis zum Renteneintritt ändert sich das ein wenig, aber nicht merklich: Handwerkerinnen und Handwerker haben dann durchschnittlich nur drei Prozent weniger Lebenseinkommen verdient. Bei irgendwem müssen die rund 650 Milliarden Euro, die im Jahr 2020 vom Handwerk erwirtschaftet wurden, ja schließlich ankommen.
Auch für Jan war das Thema Geld ein wichtiges Kriterium: „Ich stand vor der Entscheidung, mein Fachabitur nachzuholen. Ich habe mir überlegt: Ich brauche das Geld ja nicht erst, wenn ich alt bin, sondern schon früher, wenn ich eine Wohnung kaufen oder vielleicht eine Familie gründen will.“
Karrierechancen, Geld und Stabilität: So ganz ohne Vorurteile betrachtet, ist das Handwerk extrem zukunftsträchtig und vielversprechend. Jetzt fehlen nur noch ein paar Hunderttausend Azubis, dann sieht die Zukunft genauso gut aus.