Exoskelette sind am Körper getragene Assistenzsysteme, die den Träger bei schweren Arbeiten gezielt unterstützen sollen. Vor allem in der Industrie werden sie zur Entlastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingesetzt. Aber wie groß ist die Unterstützung wirklich, und wo liegen ihre Grenzen?
Heben und Senken von schweren Lasten sowie Überkopfarbeiten gehören in der Industrie zum Arbeitsalltag. Um solche Bewegungsabläufe zu erleichtern, werden immer häufiger sogenannte Exoskelette ins Spiel gebracht – am häufigsten von Unternehmen aus der Logistik- oder Produktionsbranche, wie das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik berichtet. Hier arbeiten die Beschäftigten häufig in gebückter Haltung, heben schwer oder stehen lange. Besonders herausfordernd ist dabei die Arbeit über Schulterhöhe, wie sie zum Beispiel in der Automobilproduktion oft vorkommt.
Infobox: Aktive und passive Exoskelette
Exoskelett-Modelle lassen sich in zwei verschiedene Arten einteilen:
1. Aktive Exoskelette sind meistens elektrisch motorisiert und benötigen einen Akku. Sie erfassen Bewegungen mit einem Sensor und geben diese als Steuersignale an den Motor weiter.
2. Passive Exoskelette haben keinen Antrieb, sondern nutzen eine Federunterstützung, die bei bestimmten Bewegungen Energie aufnimmt und bei entsprechender Gegenbewegung wieder abgibt.
Aufgrund des hohen Gewichts und der Energiezuführungsproblematik sind aktive Exoskelette noch in der frühen Entwicklung und werden im Vergleich zu passiven Modellen seltener in der Praxis eingesetzt.1
Exoskelette gegen „stumme Risiken“
Ein Unternehmen, das sich der Entwicklung von „Außenskeletten“ für den Arbeitsalltag verschrieben hat, ist Ottobock Bionic Exoskeletons. Der Spezialist stellt passive Exoskelette nach biomechanischem Prinzip her und beliefert Konzerne wie Airbus, Mercedes und Toyota. „Sicherheit am Arbeitsplatz ist weit mehr als die Verringerung von Unfallrisiken“, erläutert David Duwe, Vice President bei Ottobock. So gebe es auch „stumme“ Risiken, die nicht weniger gefährlich seien: zu den größten gehört dabei die Belastung des Körpers durch das Heben und Transportieren schwerer Gegenstände.
„Erkrankungen des Bewegungsapparats wie Schmerzen in Rücken, Schultern, Nacken oder Knie sind die häufigste Ursache für krankheitsbedingte Ausfälle am Arbeitsplatz“, weiß Duwe. „Exoskelette gehören dabei zu den wenigen Lösungen: Sie erleichtern Menschen die Arbeit in körperlich fordernden Berufen, sie schützen die Gesundheit der Mitarbeitenden und vermindern Ausfallzeiten spürbar.“
Arbeitsausfälle fördern die Nachfrage nach Unterstützung
So sieht man es auch beim Mewa-Kunden, der Hennig GmbH. Der Mittelständler produziert unter anderem Moduleinheiten für den Maschinenbau und setzt seit 2019 auf Exoskelette von Ottobock. „Wir haben viele ältere Mitarbeitende im Unternehmen“, berichtet Sven Löbner, technischer Leiter bei Hennig. „Da sind vermehrt Schulterprobleme aufgetreten, und Mitarbeitende sind teilweise für drei bis vier Monate ausgefallen. Bei der Frage, wie man solche Arbeiten erleichtern kann, kam das Thema Exoskelette auf.“
Infobox
Bis zu 44 Millionen Menschen in der EU haben beruflich bedingte Probleme mit ihrer Gesundheit. Über Rückenschmerzen wird hier mit am häufigsten geklagt. Auf der Liste der Berufskrankheiten stehen Muskel-Skelett-Erkrankungen ganz oben. Krankheitsbedingte Arbeitsausfälle kosten die Industrie jedes Jahr mehr als 300 Milliarden Euro, berichtete die Hessenschau. 2
Gezielter Einsatz
Um die Schultern der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bei Überkopfarbeiten zu entlasten, hat das mittelständische Familienunternehmen vor ungefähr vier Jahren sechs Paexo-Soft Back Exoskelette von Ottobock erworben. Seitdem sind sie täglich im Einsatz. Die Nutzungszeit liege bei 15 bis 20 Prozent, so Löbner. Die Anwendung ist aus seiner Sicht eine Punktlandung bei einem bestimmten Prozess der Produktion – nämlich im Biegebereich. „Hier wirkt mit einem Mal eine große Kraft auf die Schultergelenke und Arme der Mitarbeitenden, weil die so halb schräg mit ausgestreckten Armen dastehen und quasi das Blech wieder runterlassen. Und genau da helfen die Exoskelette mit. Das ist der perfekte Einsatz dafür.“
Letztendlich entscheiden die Mitarbeitenden
Wenn eine technische Maßnahme die Sicherheit und Gesundheit effektiv schützen soll, braucht sie eine hohe Akzeptanz im Unternehmen. Für Exoskelette bedeutet das: Sie müssen sich einfach anlegen lassen, komfortabel sein und sie dürfen nicht bei den alltäglichen Bewegungen stören. Zumal derzeit noch nicht genau feststeht, wie hoch die Entlastung wirklich ausfällt. Denn passive Außenskelette verteilen die Belastung auf andere Körperteile. Inwiefern dadurch neue Belastungen oder Fehlhaltungen entstehen können, ist noch nicht bekannt. Zudem müssen Unternehmen auch im Bereich Arbeitssicherheit Lösungen entwickeln. Das gilt zum Beispiel für Situationen wie Feueralarme, in denen schnell reagiert werden muss, Mitarbeitende aber durch Exoskelette in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind.
Um Mitarbeitende zu überzeugen, ist also eine gute Einführungs- und Gewöhnungsphase wichtig, bei der möglichst alle Beteiligten eingebunden sind. Bei Hennig konnte Löbner eine interessante Akzeptanzkurve beobachten. Nach einer einwöchigen Testphase waren alle im Team überzeugt und haben entschieden: „Machen wir!“ In den Wochen danach war allerdings die Stimmung eher: „Hmm, jetzt müssen wir die Dinger anziehen, und das kostet uns fünf Minuten Zeit.“ Um dann festzustellen: „Die nehmen uns wirklich Arbeit ab.“ Mittlerweile nutzen die Beschäftigten ihre Exoskelette gerne, da sie eine deutliche Unterstützung spüren.
Zielgruppe | Vorteile | Nachteile |
Unternehmen | Personalakquise: Wettbewerbsvorteil | Arbeitsschutz: Gefährdungen aufgrund von Exoskeletten |
Potenziell weniger Arbeitsausfälle | Teure Investition: über 2.000 Euro pro Exoskelett | |
Mehrere Personen können ein Exoskelett nutzen | Akzeptanz bei Einführung und Gewöhnung muss geschaffen werden | |
Beschäftigte | Unterstützung bei schweren Arbeiten: Lastenverteilung | Einschränkung der Bewegungsfreiheit |
Das Anlegen kostet Arbeitszeit | ||
Mögliche Beschwerden an anderen Körperpartien |
Noch reichlich Entwicklungspotenzial
Potenzial für den Einsatz von Exoskeletten ist also da. Die Arbeitsmedizin meint jedoch: Bei ihrer Entwicklung ist noch Luft nach oben – vor allem, was Gewicht und Bewegungsfreiheit angeht. Kritische Stimmen wie die des Spitzenverbands Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung meinen, dass es besser sei, Arbeitsplätze ergonomischer zu gestalten. So ließen sich Arbeitszeiten mit hoher körperlicher Belastung reduzieren, ohne in personengebundene Maßnahmen zu investieren. Zudem fehlen derzeit noch unabhängige Langzeitstudien, welche die Auswirkungen auf Gesundheit und Produktivität wissenschaftlich nachweisen.
Für uns waren die Exoskelette eine relativ große Investition. Aber wenn sie dabei helfen, unsere Mitarbeiter vor langen Ausfällen und Operationen zu bewahren, lohnt sich das für beide Seiten.“
Sven Löbner, Hennig GmbH
Da aber vielerorts der Nachwuchs fehlt und die Belegschaft älter wird, interessieren sich immer mehr Unternehmen für Exoskelette. Bei Hennig kann man sich sogar vorstellen, künftig mit einem Hersteller gemeinsam anwendungsspezifische Exoskelett-Modelle zu entwickeln. Verglichen mit getakteten Tätigkeiten wie die Fließbandarbeit gibt es nur wenig Unterstützungshilfen für freie Tätigkeiten. In einer klassischen Werkstatt sei „kein Schritt wie der andere“, und deshalb sei es herausfordernd, dafür passende Lösungen zu entwickeln, erklärt Löbner und hält fest: „Auf Exoskelette wollen und können wir in Zukunft nicht verzichten.“
Nicht nur Exoskelette können in der Planung und Ausführung von Handwerksprojekten neue Möglichkeiten schaffen, sondern auch virtuelle Helfer wie AR und VR. Welche Vorteile die Technik Unternehmen schon heute bieten kann, erfahren Sie in diesem Blogbeitrag.